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“Wer sich bisher verweigert hat, muss nun nachziehen.“

Fraunhofer IAO-Chef Prof. Wilhelm Bauer zeigt beim

5. TecTalk Digitale Transformation, wie die Pandemie die Arbeitswelt verändert

 

Selten hat sich das schon reichlich abgedroschene Sprichwort, eine Krise sei immer auch eine Chance, so sehr bewahrheitet, wie in der Corona-Pandemie. Schon mit dem Lockdown im März hat sich die Arbeitswelt in kurzer Zeit gravierend verändert. Und in eine längst überfällige Richtung. So wurde zum Beispiel die Digitalisierung massiv vorangetrieben und das Homeoffice endlich als vollwertiger Arbeitsplatz entdeckt. Das war bei allem Aufbruch der Digitalwirtschaft so nicht unbedingt zu erwarten. Denn regelmäßige Videokonferenzen, der Einsatz von Kollaborationstools und Teams dezentral und mobil arbeitend zu führen, das war in Deutschland bis dahin eher unterentwickelt.

Was sich in dieser Hinsicht durch Corona verändert und wie es damit weitergeht, das war das Thema beim 5. Duisburger TecTalk Digitale Transformation – dieses Mal als digital-virtuelle Veranstaltung und mit einem ausgewiesenen Experten als Gast. Prof. Dr.-Ing Wilhelm Bauer, geschäftsführender Leiter des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (Fraunhofer IAO) in Stuttgart, erforscht bereits seit mehr als 30 Jahren das Zusammenspiel von Mensch, Organisation und Technik.

Bauer präsentierte Ergebnisse von Studien und Umfragen, die das Fraunhofer IAO im Verlaufe der Pandemie vorgenommen hatte. Vor allem das mobile Arbeiten verzeichnete darin einen explosionsartigen Schub. Vor Corona hatte nur eine Minderheit der Bürobeschäftigten die Möglichkeit zur Arbeit im Homeoffice. Doch ab Mitte März waren es schon gut 70 Prozent, das sind mehr als 35 Prozent der Beschäftigten in Deutschland. Und bei Unternehmen wie IBM arbeiten jetzt immer noch mehr als 95 Prozent der Beschäftigten von zuhause.

Hier wird erkennbar, wie sehr Corona die deutsche Wirtschaft in kürzester Zeit digitalisiert hat. Die Mehrheit der deutschen Unternehmen hat in der Pandemie kräftig in digitale Tools investiert, Videokonferenz-Plattformen wie Zoom, GoToMeeting oder MS Teams erleben einen wahren Boom. Allerdings geht der Trend zur Heimarbeit derzeit zurück, viele Arbeitgeber erstellen gerade „Roadmaps“ zur Rückkehr ins Büro. „Aber die gemachten Erfahrungen haben gezeigt: Es funktioniert“, sagt Bauer. Gut zu wissen, wenn die zweite Welle kommt.

Unternehmen hinterfragen plötzlich alle gewohnten Regeln

Doch egal, ob in Zukunft 30, 40 oder sogar 50 Prozent der Mitarbeitenden dauerhaft im Homeoffice arbeiten, für die Unternehmen stellt sich dann die Frage, was mit dem nicht mehr benötigten Büroraum passieren soll. Die Folge: Auslaufende Mietverträge werden entweder gekündigt oder nur für kurze Zeit verlängert oder Teile der bisherigen Büros sofort aufgegeben. Was das für die Entwicklung der Städte bedeutet, ist dabei eine ganz andere Frage.

Das Thema Kosten sparen steht für die Unternehmen heute ganz oben auf der Agenda. Darunter fallen auch die Reisekosten. Zukünftig werden wesentlich weniger Dienstreisen stattfinden, weil sich die Videokonferenztechnik bewährt hat für Meetings, die keine unbedingte physische Präsenz erfordern. Weniger Reisen hat auch zu der allgemein hohen Zufriedenheit mit dem Arbeiten im Homeoffice beigetragen, ebenso wie der Zeitgewinn durch den Wegfall des täglichen Arbeitsweges. Das zeigen die Befragungen des IAO. Auch ungestört arbeiten können und eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf werden als Vorteil genannt. Generell sind 80 bis 90 Prozent sehr zufrieden mit der Erledigung ihrer Aufgaben. Insgesamt wollen die meisten der Befragten auch nach Corona die Arbeit im Homeoffice in begrenztem, aber doch erheblichen Umfang fortsetzen. „Es gibt deutlich mehr Zustimmung als Kritik“, so Bauer.

Das Bild zeigt Umfrageergebnisse zur Fragestellung: "Was denken Sie, was hat man in Ihrem Unternehmen aufgrund der Corona-Krise gelernt?"
© Fraunhofer IAO, IAT Universität Stuttgart
Aber nicht nur die Beschäftigten, auch die Arbeitgeber sind mit den im Homeoffice gezeigten Leistungen im Großen und Ganzen zufrieden.

Knapp die Hälfte der befragten Unternehmen will deshalb das Angebot nach Corona deutlich ausweiten. Dazu müssen allerdings die technischen Voraussetzungen weiter verbessert werden. Aus den derzeit noch bestehenden Provisorien und Übergangszuständen wollen sie dauerhafte Regelungen entwickeln. Doch die Unternehmen sind gehalten wachsam zu sein, denn Bindung und Gemeinschaftsgefühl der Belegschaft sind nicht zu unterschätzen. Dazu sind Zeiten des Zusammentreffens am Arbeitsplatz weiterhin sehr wichtig. Und die sind nun mal selbst durch tägliche Videomeetings nicht zu ersetzen.

Wie geht es nun weiter? Mit welchen Entwicklungen werden wir in den nächsten Monaten rechnen können? Bauer und das Fraunhofer IAO gehen davon aus, dass nach der Reaktions- oder Anpassungsphase von ein paar Wochen und einer „Erholungsphase“ sich so etwas wie eine „neue Normalität“ einstellen wird. Dazu gehören dann verstärktes Arbeiten im Homeoffice, das Führen von Mitarbeitern auf Distanz mit neuen Methoden wie OKR (Objectives and Key Results) und natürlich wird es viel mehr Online Meetings geben. Vermutlich mehr noch als bisher. Außerdem wird eine radikale Digitalisierung in allen Bereichen zu beobachten sein, egal ob in der Produktion oder Kommunikation. „Auch Unternehmen, die sich dieser Entwicklung bisher verweigert haben, müssen nun nachziehen“, sagt Bauer.

Zu erwarten sind auch eine stärkere operative Resilienz und eine Re-Lokalisierung der Produktion. Allein das Beispiel der nicht verfügbaren Hygienemasken zu Beginn der Pandemie hat deutlich gemacht, wie sehr wir von der Produktion in anderen Ländern und Erdteilen abhängig sind. Ein Ende der Globalisierung ist deswegen sicher nicht gleich zu erwarten, aber eine klare Adjustierung. Das heißt, mehr Autonomie und weniger internationale Abhängigkeit. Und: Lieferketten, die auch in Krisenzeiten noch funktionieren.

Eine Grafik des Fraunhofer IAO beschäftigt sich mit den Phasen der Krisenbewältigung der Corona-Pandemie. Die Phasen sind in drei Phasen eingeteilt. Phase 1 nach 2-4 Wochen ist Reaktion. Phase 2 nach 12 Monaten ist Erholung. Phase 3 ab 12-18 Monaten ist Neue Normalität.
© Fraunhofer IAO, IAT Universität Stuttgart

Der Umgang mit Corona macht Mut für die Herausforderung Klimawandel

Der bisher sehr erfolgreiche Umgang mit der Pandemie in Deutschland kann und muss nach Meinung von Prof. Bauer Mut machen für die Herausforderungen, die uns mit dem Kampf gegen den Klimawandel als einer weitaus größeren Krise noch bevorstehen. Als Ansätze sieht er dafür vor allem ein neues Solidaritätsgefühl und eine neue Entschlossenheit. Frei nach dem Motto: Wenn wir gemeinsam die Covid-19-Krise in den Griff bekommen, dann doch wohl auch die Klimakrise. Es besteht also durchaus Hoffnung, dass nicht nur das Thema Klima, sondern Nachhaltigkeit insgesamt mehr Aufmerksamkeit erhält und stärker Einzug ins Arbeitsleben hält.

Die Diskussion über die Zeit nach Corona drehen sich vor allem um eine Frage: Werden wir alles wieder „hochfahren“, was wir hatten? Oder wird der Schock des Shutdown in Erinnerung bleiben? Als Erfahrung, dass ein „Weiter so“ keineswegs ein Naturgesetz ist, als Erkenntnis, dass unser Alltagsverhalten über Leben und Tod entscheiden kann, als Erlebnis, dass unsere Welt sich verändern kann und auch als Impuls, darüber nachzudenken, was wirklich zählt.

Auf die Frage eines Teilnehmers, was sich Deutschland denn in der Corona-Krise vom Ausland abschauen könne, sieht Bauer eher Deutschland als nachahmenswertes Beispiel. Immerhin hat die Produktion der stark nachgefragten Güter ziemlich schnell fast wieder das Vor-Corona-Niveau erreicht. Trotz der vielfältigen und teilweise massiven Einschränkungen und Auflagen in den Betrieben. Aber auch die Strategien anderer Länder, wie etwa die von Schweden oder China, sind interessant genug, um sie weiterhin genau zu beobachten.

Eine Grafik des Fraunhofer IAO zeigt auf, wie verschiedene Länder aufgestellt sind, wenn es um die Bewältigung der Corona-Pandemie geht. Die abgeprüften Parameter sind die Kapazität des Gesundheitssystems, die Textkapazitäten mit einem effektivem Meldesytem und die Stringenz der Verfolgung der Infektionsketten. Die getesteten sind Deutschland, Italien, UK, Südkorea und Singapur.
© Fraunhofer IAO, IAT Universität Stuttgart
Ein „Recht auf Homeoffice-Arbeit“ ist für Bauer nur eine Frage der Zeit.

Auf zu erwartenden Unterstützung durch IT-Lösungen lassen sich heute schon einige vielversprechende Ansätze erkennen. Nämlich, dass sowohl die Nutzung bereits bestehender Tools und Plattformen rasant zunimmt als auch, dass eine Reihe von Innovationen auf den Weg gebracht werden. So können beispielsweise Messeveranstalter ihre virtuellen Ausstellungen bald über Hybride aus Videokonferenz- und 3-D-Präsentationssoftware abhalten. Hochschulen bieten – im Gegensatz zur katastrophalen Situation beim öffentlichen Schulwesen – zwar schon ganz ordentliche digitale Lern- und Prüfungsmöglichkeiten, doch es ist davon auszugehen, dass sie ihr digitales Lern- und Lehrangebot jetzt zügig erweitern werden.

Was für Hochschulen gilt, gilt auch für die Arbeitsplätze insgesamt. Eine räumliche Unabhängigkeit vom Sitz des Arbeitgebers wird zunehmen. Dabei muss es nicht zwangsläufig das vielbeschriebene Büro am Strand sein, für das nur noch Notebook und Internet nötig sind. Die „Internationalisierung des Arbeitsplatzes“ hat durch die zahlreichen Reiseverbote bereits zugenommen und wird dies weiter tun. Auf die abschließende Frage, ob und wie wir uns aufgrund der gemachten Erfahrungen auf zukünftige Krisen vorbereiten werden, sieht Bauer vor allem die gestiegene Bereitschaft zur Vorsorgeplanung und erste Ansätze bei Resilienz.

Prof. Dr.-Ing Wilhelm Bauer, geschäftsführender Leiter des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (Fraunhofer IAO) in Stuttgart
Prof. Dr.-Ing Wilhelm Bauer, geschäftsführender Leiter des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (Fraunhofer IAO) in Stuttgart, erforscht bereits seit mehr als 30 Jahren das Zusammenspiel von Mensch, Organisation und Technik.
Zum Format: Der TecTalk Digitale Transformation richtet sich an Führungskräfte von Unternehmen, die in besonderem Maße gefordert sind, die Effekte der Digitalisierung in ihrem Geschäftsmodell zu verarbeiten. Die Initiatoren des TecTalks Digitale Transformation, die Kommunikationsberatung crossrelations, der Industrie 4.0-Spezialist ITQ und der Förderverein Ingenieurwissenschaften der Universität Duisburg-Essen e.V. wollen mit diesem Format dem notwendigen disziplinübergreifenden Austausch eine Plattform geben. Die Teilnehmer sollen über Impulsreferate zu jeweiligen Schwerpunktthemen neues Wissen gewinnen und sich darüber unmittelbar untereinander austauschen können. Wissenszuwachs und Vernetzungsgewinn sind dabei unvermeidlich.

Ort der Veranstaltung ist üblicherweise das von Norman Foster konzipierte Tec-Center im Duisburger Technologiepark „Tectrum“, heute ein Campus der Innovation und Inspiration für junge wie für etablierte Wachstumsunternehmen. Unter anderem wurde vor Jahren auch LTE hier entwickelt.