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Rückruf? Kein Anschluss unter dieser Nummer

Die Lebensmittelwarnungen sind auf Rekordniveau. Das gilt leider nicht für die Kommunikation der Branche.

Was ist nur mit unseren Lebensmitteln los? Die Produktwarnungen im offiziellen Portal der Bundesregierung, www.lebensmittelwarnung.de, überschlagen sich. 160 waren es schon Anfang Oktober als mit dem Fall Wilke die Gefährdung und drei Todesmeldungen auf einen traurigen Höhepunkt zuzusteuern schien. Danach ging es nochmal richtig ab: Listerien, Coli-Bakterien, Fremdkörper. Bis zum Ende des Jahres wird die Anzahl der Warnmeldungen wohl noch auf 200 steigen.  Sogar die Tagesschau vermeldete in den vergangenen Tagen, dass Warnmeldungen und Rückrufe von Lebensmitteln auf ein Rekordniveau gestiegen sind. Was ist los? Sind unsere Lebensmittel etwa unsicherer geworden? Oder wird einfach nur mehr gewarnt?

Seit knapp zehn Jahren begleiten wir Kunden durch Lebensmittelkrisen. Und dabei ist uns aufgefallen: Der Umgang mit Lebensmittelkrisen hat sich in dieser Zeit deutlich verändert. Der große Wendepunkt war die EHEC-Krise 2011. Damals blickte eine ganze Republik angsterfüllt auf die täglich steigende Zahl von Erkrankungen, während Behörden und Institute die Quelle des Erregers suchten. 4.000 ernsthafte Krankheitsfälle mit zum Teil lebenslangen Folgen und mehr als 50 Tote waren am Ende der Krise zu beklagen. BSE und Dioxin-Belastungen hatten ein paar Jahre zuvor zwar die Voraussetzungen für ein verbessertes Verbraucherinformationsrecht gelegt, aber das Gesamtsystem, die Praxis in den Betrieben und auf den Behörden war immer noch nicht auf eine schnelle Bearbeitung ausgerichtet. Mit EHEC änderte sich alles: Man realisierte, dass Lebensmittel, die als Überträger von Keimen in Verdacht geraten, zum Zeitpunkt der Erkrankungen und folgender Untersuchungen oft schon verbraucht waren. Das ganze System von der Rückverfolgbarkeit von Lebensmitteln, über Kontrollen und Untersuchungen bis zum Rückruf von Waren aus dem Markt war einfach zu langsam. Heute ist das Reaktionssystem, sowohl auf und zwischen den beteiligten Behörden, wie auch in den Betrieben der Hersteller wesentlich leistungsfähiger und schneller. Schon im Oktober 2011 ging das Portal www.lebensmittelwarnung.de an den Start. Verbraucher sollen darüber schon frühzeitig vor gesundheitsgefährdenden Lebensmitteln gewarnt werden. Erstmalig entstand die Möglichkeit, Konsumenten schon binnen weniger Stunden nach einer amtlichen Entscheidung, vor dem Verzehr eines Produktes zu warnen. Es steht außer Frage, dass mit diesem System die EHEC-Krise anders verlaufen wäre (auch wenn lebensmittelwarnung.de zu recht kritisiert wird, mit dem Biorhythmus einer Behörde häufig zu langsam Warnmeldungen zu veröffentlichen).

Hohe Nervosität sorgt für mehr Warnungen

Der deutliche Anstieg bei den Warnmeldungen ist daher ein gutes Zeichen. Auch wir haben allein in diesem Jahr zehn Unternehmen auf Rückrufe vorbereitet oder diese kommunikativ begleitet. Richtig ist aber auch, dass wir heute vermutlich die sichersten Lebensmittel und die besten Eigenkontrollen aller Zeiten in Deutschland haben. Der Grund dafür ist, dass die Analytik immer leistungsfähiger geworden ist und die Unternehmen heute auch viel mehr Eigenkontrollen durchführen. Um Haftungsrisiken zu vermeiden, ziehen Hersteller schon von sich aus Produkte bei dem geringsten Verdacht aus dem Verkehr. Kaum in der Öffentlichkeit bekannt ist die Tatsache, dass auf jeden öffentlichen Rückruf mehrere sogenannte „stille Rückrufe“ kommen, bei denen das Produkte noch nicht im Abverkauf ist und noch aus den Lagern zurückgeführt werden kann. Öffentlich zurückgerufen werden muss, wenn Lebensmittel gesundheitsgefährdend, ekelerregend oder täuschend deklariert sind. Tatsächlich wird heute schon deutlich unterhalb dieser Schwellen gewarnt und zurückgerufen. Erinnert sich noch jemand an den „Fipronil-Skandal“ vor zwei Jahren? Damals war das Insektizid unter dubiosen Umständen in das Reinigungsmittel von Hühnerställen geraten und wurde bei Eigenkontrollen belgischer Produzenten festgestellt. In einer unübersichtlichen Situation wurde eine vorsorgliche Warnung in das europäische Schnellwarnsystem gegeben. Bereits in kürzester Zeit wurden europaweit Eier aus dem Handel genommen. In Deutschland stoppte Aldi sogar jeglichen Verkauf von Eiern für die kein testierter Negativbefund vorlag. Die Aufregung war groß und mündete in den üblichen Schuldzuweisungen und Sondersendungen. Die besondere Pointe der Affäre: Nicht in einer einzigen Kontrolle war in Deutschland der gesundheitsrelevante Grenzwert nur annähernd erreicht worden. Bei dem höchsten gemessenen Wert hätten sieben Eier in 24 Stunden gegessen werden müssen, um überhaupt in die Nähe des Grenzwerts zu kommen.

Der Vorgang unterstreicht die nervöse Grundhaltung der Branche. Lieber einmal zu viel gewarnt, als einmal zu wenig. Zu viele Unternehmen, die schon von einer einzigen großen Krise aus dem Markt geworfen worden sind. Und das nicht, weil sie ihre Hygienepraxis nicht unter Kontrolle bekommen haben, sondern weil ihnen nach schlechter Kommunikation das Vertrauen der Kunden entzogen wurden.

Das Verbrauchervertrauen in die Lebensmittelindustrie ist auf einem historischen Tiefpunkt

Verbraucherschützer erachten auch die Warnpraxis immer noch als unzureichend. Sie fordern, dass die Warnungen intensiver auf mögliche Erkrankungen eingehen und vor allem der Handel selbst seine kommunikativen Möglichkeiten besser in den Dienst der Produktwarnungen stellt. Es sind Zweifel angebracht, ob es jemandem nutzt die Ausführlichkeit der Warnmeldungen auszuweiten. Jetzt schon stellt die Inflation der Warnmeldungen eine Überforderung der Verbraucher dar. Das zeigt sich bei uns in den Hotlines, die wir bei Rückrufen für Verbraucher und Medien zur Verfügung stellen. Beim größten Teil der Anrufer erweist sich rasch, dass sie gar nicht das Produkt besitzen, welches Gegenstand des Rückrufs ist. Die Ängste der Verbraucher sind echt, die Ware ist es nicht.

Und so ist das ganze Stimmungsbild. Richtig indes ist, dass Handel und Erzeuger mehr dafür tun könnten, Verbrauchern Orientierung zu geben. Obwohl wir die sichersten Lebensmittel haben, ist das Verbrauchervertrauen auf einem historischen Tiefpunkt. Lebensmittelunternehmer gelten mittlerweile weithin als profitgierige Halunken, die Behörden als unfähig und Bio-Lebensmittel sowieso als zu teuer.
Der Fall Wilke war natürlich eine Katastrophe für die Branche und hat wieder eine Menge Vertrauen verbrannt und Vorurteile angeheizt.  Medien fachen diese Ängste gerne an. Wenn es um Lebensmittel geht, orientiert sich der Nachrichtenwert immer am negativen Potenzial. Und es ist eine Tatsache, dass die Deutschen negativen Medienberichten prinzipiell mehr Vertrauen entgegenbringen als positiven. Das wird von den Medien mit den großen Buchstaben gerne bedient. Die tägliche Lebensmittelkrise dient hier jederzeit gut als redaktioneller Füllstoff. Wilke hat im Publikum ohne Zweifel ein Bedürfnis an Schrecken und Ekel bedient, dass vor allem der Stabilisierung liebgewordener Klischees dient.

Lebensmittelproduzenten oft mit der kommunikativen Verantwortung überfordert

Richtig ist dennoch, dass die Branche ein großes Kommunikationsproblem hat. Der Einzelhandel reicht die kommunikative Verantwortung an die Produzenten weiter und die zeigen sich mit der entstandenen Verantwortung weitgehend überfordert. Die überwiegende Zahl der Produzenten sind mittelständische Familienunternehmen, die selten über eine ihrem Umsatz entsprechende Kommunikationspraxis verfügen. In Schockstarre und Angst vor der Macht von Medien und den Handelskunden wird die eigene kommunikative Verantwortung klein geredet und die Geschäftstätigkeit in Schweigen und Intransparenz gehüllt. Wer allerdings erst bei einem deutschlandweiten Rückruf die Bedeutung von Kommunikation entdeckt und sich am Pranger wiederfindet, der steht mit dem Rücken an der Wand und kann nicht auf Gnade und Verständnis in der Öffentlichkeit hoffen. Mehr noch, sie machen den größten Fehler, den Unternehmen machen können: Sie stellen in dem Augenblick, wo nur Kommunikation helfen kann, jegliche Kommunikation ein. Sie machen manchmal sogar in jeder Hinsicht zu. Damit ärgern sie alle: die Verbraucher, den Handel und auch die Behörden, die ja verpflichtet sind, zu kommunizieren und auch ungern dabei allein gelassen werden.

Das Paradox: Viele dieser Unternehmen sind durchaus wachsam und innovativ. Sie machen sich die modernsten Technologien zu eigen, bestehen anspruchsvollste Audits und kennen die Bedürfnisse ihrer Kunden. Die Lebensmittelwarnungen, die Rückrufe, die Insolvenzen von Wilke und Co. sind das Menetekel am Werkstor. Die Produzenten erleben gerade, wie schnell schon ein einzelner Rückruf wegen eines Listerienverdachts oder eines temporären Hygieneproblems sie vor die Existenzfrage stellen kann. Es ist höchste Zeit, sich der kommunikativen Verantwortung zu stellen.

Im Interview mit Vorkoster Björn Freitag gibt Andreas Severin Einblicke in die Welt der Lebensmittelkrisen, das dort vorherrschende Transparenzproblem und den Wert von Gesprächsbereitschaft. Das Video und weitere Infos finden Sie auf unserer Themenseite Krise.