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Menetekel Lebensmittelwarnung

148 Lebensmittel wurden 2016 zurückgerufen – etwa 50 Prozent mehr als im Vorjahr. Das geht aus Zahlen des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) hervor, die Ende März von der Funke-Gruppe veröffentlicht wurde. Das wäre eine signifikante, gut 50-prozentige Steigerung gegenüber den knapp 100 in 2015 zurückgerufenen Lebensmitteln.

In 2017 werden von uns bisher 110 Produktrückrufe auf lebensmittelwarnung.de (Stand 21.07.2017) gezählt. Auch im Europäischen Schnellwarnsystem für Lebensmittel und Futtermittel (Rapid Alert System for Food and Feed, RASFF), das seit 1979 vor auffälligen Lebensmitteln warnt und Produktrückrufe dokumentiert, lässt sich dieser Trend nachvollziehen. Auf den ersten Blick könnte man verleitet sein, anzunehmen, dass zusehends unsichere Lebensmittel in die Regale gelangen. Das ist jedoch nicht der Fall. Betrachtet auf die Gesamtmenge der in Deutschland im Verkehr befindlichen Lebensmitteln, liegt der Anteil zurückgerufener Lebensmittel laut BLL bei etwa 0,09 Prozent. Gestiegen ist allerdings die Bereitschaft der Produzenten, Produkte öffentlich zurückzurufen. Ohne Zweifel zeigt der übergreifende Trend, Rechte von Verbrauchern zu stärken und ihnen einen verbesserten Zugang zu Informationen zu verschaffen, Wirkung im Verhalten der Unternehmen.

Das 2008 in Kraft getretene Verbraucherinformationsgesetz (VIG)* hat hier bei Unternehmen für erhöhte Aufmerksamkeit und Sensibilität gesorgt. Sie haben aber auch gelernt, dass eine frühe Warnung oder sogar der Rückruf eines Produktes das Vertrauen von Verbrauchern in ihre Marke eher stärkt als beschädigt. Spätestens der in allen Medien präsente Rückruf des Unternehmens Mars im vergangenen Jahr hat eindrucksvoll demonstriert, dass ein offensiv kommunizierter Rückruf die Glaubwürdigkeit eines Anbieters durchaus sogar erhöhen kann.

Eine wesentliche Einflussgröße dieser Veränderungen dürfte die veränderte Medienumgebung spielen. Unternehmen haben gelernt, mitunter schmerzhaft, mit welcher Dynamik im Internet und den sozialen Medien fehlerhafte Produkte thematisiert werden können. Der Echoraum für tatsächliches wie vermeintliches Fehlverhalten ist heute größer denn je. Eine proaktive Kommunikationshaltung kann daher wesentlich dazu beitragen, die Lufthoheit über den Meinungsmarkt nicht zu früh einzubüßen. Und die Szene ist wachsam und aktiv. Portale wie CleanKids erreichen monatlich Tausende User, das vom Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) gemeinsam mit den Bundesländern betriebene Internetportal www.lebensmittelwarnung.de verzeichnet gut 750.000 Seitenaufrufen pro Monat.

© Cleankids.de
© Cleankids.de

Die Informationsinfrastruktur in Europa und Deutschland scheint zu funktionieren, amtlich wie privat. Die Unternehmen kooperieren eifrig. Verbraucher können heute alle Vorteile eines globalisierten, offenen Marktes genießen und gleichzeitig werden sie informiert, wenn unsichere Lebensmittel in den Verkehr gelangen. Also alles gut?

Nicht unbedingt für die Produzenten. Das Regime, das die Erfordernisse des Qualitätsmanagements und die Informationspflichten ihnen auferlegt, ist nur mit erheblichem Ressourceneinsatz zu bedienen. Die Kosten für diesen Aufwand sind in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen und können kaum weitergegeben werden. Und die Ansprüche an Transparenz und Informationspflichten steigen weiter.

So kritisiert die Verbraucherzentrale Hamburg, dass 80 Prozent der Warnmeldungen die mögliche Gesundheitsgefährdung nur unzureichend beschreiben, weil sie entweder unvollständig sind oder die Risiken verharmlosen. Die Verbraucherschützer bemängeln, dass die Texte zu den Warnungen offenbar nicht ausreichend kontrolliert und mitunter ohne fachliche Prüfung auf Vollständigkeit veröffentlicht werden. (Hier finden Sie die Auswertung der VZHH) Tatsächlich wäre hier zu untersuchen, ob eine Ausführlichkeit der Beschreibung von Risiken, wie sie hier die Verbraucherschützer fordern, in der Praxis wirklich in der Lage ist, zusätzlich verhaltensorientierend wirksam zu werden. Hier sind Zweifel angebracht, denn die Aufmerksamkeit von Verbrauchern ist jetzt schon erheblich überfordert. Klar ist nur: Die Anforderungen an das Informations- und Kommunikationsverhalten von Unternehmen bei Produktstörungen werden weiter zunehmen und die Produzenten werden sich präventiv stärker damit befassen müssen.

Kommt es zum Krisenfall, herrscht in den meisten Unternehmen Ausnahmezustand. Der Produktrückruf, die damit verbundenen logistischen Anforderungen, die Kommunikation mit Kunden, Behörden, Medien können ein mittelständisches Unternehmen schnell in eine existenzbedrohende Lage bringen. Da sind einerseits die hohen Kosten für die Rückführung und Entsorgung der Ware, andererseits aber auch ein mitunter erheblicher immaterieller Schaden bei Vertrauen, Kundenbeziehungen und Markenwerten. Fast jeder, der über lebensmittelwarnung.de veröffentlichten Alerts verfügt über das Potenzial, unter entsprechende Koinzidenzen  in kürzester Zeit zu einer ausgewachsenen Krise heranzureifen. Wer sich in Friedenszeiten nie mit einem solchen Szenario befasst hat, wird daher im Ernstfall kaum handlungsfähig sein.

Der Krisenmodus ist gekennzeichnet von permanentem Multitasking und Überforderung: Es gilt, praktisch parallel mit Behörden, Anwälten (lesen Sie hierzu auch das Interview mit Rechtsanwalt Dr. Markus Grube von der Kanzlei für Lebensmittel- und Verbrauchsgüterrecht, KWG Rechtsanwälte), Medien, Kunden und eigenen Mitarbeitern zu kommunizieren und immer wieder kurzfristig Entscheidungen zu treffen.

Hinzu kommt: Krisensituationen versetzen das Führungsteam in Stress, der körperliche und psychologische Reaktionen hervorruft. Erinnert sich noch jemand an den BP-Vorstandsvorsitzenden Hayward, der inmitten der Öl-Krise im Golf von Mexiko ausrief: „Ich will mein altes Leben zurück!“ Kaum eine Führungskraft, die mentale Techniken gelernt hat, um bei Stress ruhig und strukturiert vorzugehen, das sogenannte „Coping“ beherrscht. Es ist erwiesen, dass Krisenteams, die derartige Situationen vorab durchgespielt haben, echte Krisen bei weitem als nicht so „stressig“ erleben, sondern eher als normale Betriebsstörung angehen. Coachings können daher sowohl auf einer individuellen und sozialpsychologischen Ebene, wie auch hinsichtlich der Prozessqualitäten wesentlich zu einem günstigeren Verlauf der Krisenkurve beitragen.

Sich auf Krisensituationen dieser Art vorzubereiten, gehört in vielen Industriebranchen seit Jahren zum Repertoire der kommunikativen Risikovorsorge. In der Lebensmittelbranche wird man sich diesen Vorsorgestandards annähern müssen.  Wer hier im Geschäft bleiben will, wird sich nicht mehr über den Margendruck des Handels, oder mit dem Verweis auf bestehende IFS- und HACCP-Dokumente herausreden können. Die Handelspartner und Verbraucher werden die Nachzügler unter den Produzenten beizeiten daran erinnern.

*Zum Thema VIG haben wir eine Blogreihe:
Teil 1: Ein Überblick
Teil 2: Risiken für Unternehmen und Behörden
Teil 3: Konsequenzen für die Kommunikation